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Dereliction

Wieso schreibt man ein Buch?

… ist die erste Frage, die mir gestellt wird, wenn ich davon erzähle. Die Antwort ist simpel. Ich hatte Lust, und eine Idee.

Was für ein Buch ist es denn?

Ein Sci-Fi Roman.

Ja, aber worum geht es?

Es geht um Alexius Blake, einen jungen Mann, seinen sorgenden Vater und seine Freunde. Es geht um unsere Erde und Klima. Um Auswege, Aussichten und Ängste. Es geschehen lustige, tragische und spannende Dinge. Schlussendlich ist es ein Buch.

Okay, offenbar willst du meine Frage nicht beantworten.

Sorry. Das Buch spielt einige hundert Jahre in der Zukunft. Alex Blake ist 19 Jahre alt und wohnt mit seinem Vater und zwei Freunden in einem kleinen Wohnbereich unterhalb der Universität. Er kennt die Welt nur so. Wenn er nach draussen will, muss er sich in einen kratzigen, alten Schutzanzug zwängen. Jede Woche sucht er so nach alten Büchern in der Universitätsbibliothek, weil er für sein Leben gerne liest. Durch einen Zufall ergibt sich für ihn die Möglichkeit, das erste mal in seinem Leben seine Blase der Geborgenheit zu verlassen und nach New Bristol, der grössten Siedlung in der Region, zu reisen. Dann, völlig unerwartet, beginnt die eigentliche Geschichte des Buchs, das du lesen solltest.

Ich lese nicht gerne, gibt's ein Hörbuch oder so?

Wenn ich mal reich bin, lasse ich vielleicht eins machen. Für den Moment ist die klassische Form die Einzige.

Leseprobe gefällig?

Leseprobe. Kapitel 1.

Die Uni ist wieder mal, na ja, leer halt. Ich mach’ die ganze Übung hier jede Woche und glaube langsam werde ich wahnsinnig. Immer dieselben alten Mauern und dieselben morschen Regale mit alten Büchern, die ich allesamt schon gelesen habe. Trotzdem hoffe ich jedes Mal, etwas Neues zu finden, lässt mich Pa ja nicht außerhalb der Universität suchen. »Campus! Sonst nehme ich dir Eddy weg!«, höre ich mich mit höhnischer Stimme murmeln. Leere Drohungen, Vater ist dafür viel zu nett. Nun ja, immerhin ist das hier eine recht erfreuliche Abwechslung zu meinen üblichen Gefilden. 

Die Universitätsbibliothek ist bis auf die vermoderten Holzregale in überraschend gutem Zustand. Riesige Marmorsäulen ragen etwa fünfzehn Meter in die Höhe wo sie die fast vollständig erhaltene, gewölbte Decke zusammenhalten. Einige Tische stehen obendrein beinahe auf allen vier Tischbeinen. Die Stühle aus Kunststoff halten sich auch recht gut für ihr Alter. Hab’ ich sogar schon persönlich getestet. Manchmal sitzt meinereiner in aller Selbstverständlichkeit hier und stellt sich vor, wie hunderte von Menschen herumwuseln, Bücher und Wissen austauschen und sich über ihre Lieblingsromane unterhalten. Außer meiner eigenen Vorstellung habe ich jedoch nicht gerade viele Informationen zu dem Innenleben einer Bibliothek in alten Zeiten. Bücher über dieses Thema sind ironischerweise eher rar.

Im Moment stehe ich regungslos da, auf meinem Headup-Display blinken Zahlen und piepsen Töne, welche ich seit Jahren ignoriere. Ich schaue mich um: Dieselben vier Regale an der Nordwand stehen – nicht sonderlich überraschend – immer noch. An der Westseite ist schon lange tote Hose. Das brauchbare Holz der ehemaligen Gestelle dort haben wir verwendet, um einen Zugang zur Galerie zu bauen. Die eigentliche Wendeltreppe war schon eingestürzt, als meine Eltern hier ankamen. Mein alter Herr hat mir mit der Rampe geholfen, damit ich oben nach weiteren Büchern stöbern kann. Tatsächlich habe ich die ersten paar Male einige brauchbare Sachbücher gefunden, über Geschichte und Geografie, welche mich ein paar Wochen faszinierten. Eins davon war eine Zusammenfassung der Führer der freien Welt über die letzten Jahrhunderte. Wirklich objektiv war das Buch in der Darstellung der Persönlichkeiten jedoch nicht. Anscheinend gab’s schon damals ein paar Idioten. Na ja, war zu erwarten. Sachbuch, nicht Sachlichbuch. 

Über die improvisierte Rampe bewege ich mich, begabt wie ich bin, mit nur einmal Stolpern zum zweiten Stock. Vielleicht ist ja ein Wunder passiert und dort oben sieht nun alles anders aus– nope, alles gleich. Langsam habe ich das Gefühl, die Langeweile bringt unsere Spezies schlussendlich zum Aussterben. Okay, vermutlich die Knappheit der Scrubber für die Schutzhelme zuerst. Oder Wasser, vermutlich Wasser. 

Von hier oben hat man eine recht gute Übersicht über die Bibliothek und sieht durch ein paar glaslose Fensterrahmen auch ein bisschen Außenwelt. Grau- und Brauntöne dominieren die Aussicht, andere Farben sucht man vergeblich. Manchmal bin ich traurig, dass ich draußen nie Bäume wie die in den Büchern oder Pflanzen wie in unserer Hydrokultur sehen werde. Aber irgendwie mag ich die Grautöne mehr als die meisten anderen Verbliebenen.

Neue Bücher hat’s hier oben leider auch nicht. Wie letzte Woche und in den unzähligen davor. Beim obligatorischen Blick über das verzierte Geländer der Galerie in das sechs Meter darunter liegende Erdgeschoss wird mir ein bisschen mulmig. Ich hab’ Höhen noch nie gemocht. Die Menschen früher hatten das Problem wohl nicht, die noch übrig gebliebenen Monumente in der Außenwelt sind teilweise so hoch, dass sie den Himmel berühren. Weit außerhalb der Reichweite der gelegentlichen Exkursionen meines Vaters sieht man bei klarer Sicht sogar eine Struktur mitten im Nirgendwo, welche kilometerweit in den Himmel ragt, wie ein Kabel ohne Ende. Reiner Wahnsinn, ich bekomm’ ja schon hier oben weiche Knie.

Beim Abstieg über die improvisierte Rampe knirscht und knackt die Konstruktion unsympathisch wie immer. Ich bin noch etwa zwei Meter in der Höhe, über gestapelten Tischen, Stühlen und Holzbrettern, als das Knirschen durch einen neuen, lauteren und noch unsympathischeren Ton ersetzt wird und die Rampe, auf welcher ich vor einer Sekunde noch fest gestanden bin, unter mir zusammenbricht. Ich versuche mich, clever wie ich bin, vergeblich an der Luft festzuhalten, bevor ich Kopf voran auf eine Tischplatte einen Meter weiter unten knalle, diese einseitig nachgibt und mich minder sanft Richtung Marmorboden lenkt. Der Aufprall wird zwar durch den Schutzanzug, den ich trage, abgedämpft und das Plastoglas-Visier des Schutzhelms ist beinahe unzerstörbar, aber die unvorteilhafte Landung auf der Wirbelsäule schmerzt trotzdem höllisch. 

»Fuck!« Die Zahlen in meinem Headup-Display blinken in einem neuen, schnelleren Tempo.

»Alex, alles okay?«, ertönt eine Stimme im Comlink meines Helms und ich werde daran erinnert, dass mein Vater mich eben doch nicht ganz alleine rauf lässt.

»Eagle One an Papa Eagle, Konstruktion ist unsicher, bin umgefallen, over.«

»Brauchst du Hilfe?«

»Negativ, nur ein bisschen wackelig, kehre zur Basis zurück, over.«

»Dann bis gleich.« Im Hintergrund höre ich, wie Lily sich erkundigt, ob es mir gut geht. Mein Vater antwortet, während er sich scheinbar vom Comlink wegbewegt mit genervter Stimme: »Ja, aber wenn ich das nächste Mal ein Buch über Militärfunk finde, verbrenne ich es.« 

»Das hab ich gehört Papa Eagle, over und out.«

Die Treppe zum Wohnbereich befindet sich zwei Gänge weiter im Audimax: ein rundlicher Saal mit einem Plastoglas Podium in der Mitte und etwa 300 Sitzplätzen rundherum. Der gesamte Raum ist fast wie neu, obwohl wir einiges an Mobiliar geborgt oder für wichtigere Ressourcen getauscht haben. Die Treppe zu unserem Wohnbereich befindet sich direkt unterhalb des Podiums, das Podium selbst dient dabei als Hebel für die versteckte Falltür. Die gesamte Anlage darunter wurde vor hunderten von Jahren gebaut und war angedacht für die Studenten der Universität, als Schutzbunker bei Atomkriegen oder anderen Krisen. Deshalb ist sie auch mit einer Sicherheitsschleuse und drei vermeintlich redundanten Filter- und Kühlsystemen – von denen nur noch eins funktioniert – ausgestattet. Die noch bestehenden Siedlungen weiter innerhalb der Stadt wurden erst viel später gebaut und sind deshalb teilweise moderner ausgestattet als unser Zuhause. Der Großteil der Verbliebenen weiß nichts von unserem Wohnbereich und das ist auch gut so. 

Nachdem die Treppe etwa 15 Stufen nach unten führt, öffne ich mühsam die erste Schleusentür. Mittlerweile ist zu den blinkenden Zahlen auf meinem Display auch noch ein ziemlich fieser Warnton dazugekommen. Herrlich. Mit der Tür hinter mir wieder verschlossen, betätige ich innerhalb der Schleuse die üblichen Hebel mit den üblichen Bewegungen. Die Lüftungsanlage zischt und die warme Luft um mich herum wird endlich angenehmer. Selbst mit dem gekühlten Schutzanzug spürt man die Wärme der Außenwelt, welche an sich nicht lebensgefährlich ist, aber halt doch recht, sagen wir mal, störend. Das merkt man vor allem, wenn man gewisse Geschäfte zu erledigen hat, da die Anzüge dafür unpraktischerweise ausgezogen werden müssen. Wer sich das ausgedacht hat, ist offensichtlich Masochist. Levi war deshalb schon ein paarmal nur mit Helm und ohne Anzug draußen, der Irre. 

Nachdem das kleine Lämpchen oberhalb der zweiten Schleusentür endlich in einem gedimmten gelb-grün aufleuchtet, öffne ich die Klammern in der Mitte des Anzugs welche vom Hals bis knapp oberhalb der Hüfte reichen. Bereits nach der zweiten Klammer lockert sich der graue Anzug über meinem gesamten Körper. Der Helm hat eine ähnliche Funktionsweise: Über zwei Klammern vorne am Hals und hinten am Genick lockert sich der flexible Durillium-Stoff des Innenmaterials über der Haut. Das An- und Ausziehen des Anzugs und des Helms ist dadurch ein Kinderspiel.

Unter dem Anzug wird keine Kleidung getragen, da die Kühlung über eine Reaktion der elektronengeladenen Stofffasern und der Haut stattfindet. Der große Vorteil dabei ist, dass wir in der Schleuse eine Garderobe mit Kleidung aufstellen können, welche durch die irrespirable, aber doch warme Luft immer schön vorgewärmt ist, wenn man nach Hause kommt. Jackpot!

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